
Schon wieder ein Achttausender? |
Was, wieder ein Achttausender? Und wie war das mit der ewigen
Warterei im Basislager? Und was habe ich mir letztes Mal über die
schier endlose Schinderei anhören müssen?

In den Reisfeldern Ganeshstans |
Was treibt dich da nur hinauf? Stephans spöttischer Blick
unterstreicht die Ironie des Tonfalls. Ich stottere herum.
Schlagfertigkeit war noch nie meine Stärke. Tja, warum
Höhenbergsteigen? Kaum ein Argument, das in der Literatur noch
nicht erörtert wurde. Aber halt, wie klingt das? Höhenbergsteigen
ist eine Methode, einen Blick in die eigene Zukunft zu werfen. Die
Formel ist simpel. Ab 5000 Metern Seehöhe fühlt man sich wie
fünfzig, ab 6000 Metern wie sechzig. Demzufolge begehren am 19. Mai
zwei Einundachtzigjährige in bunten Gewändern und riesigen Stiefeln
eine Audienz an Kambungs Thron, bei jener Gottheit, die den Gipfel
bewohnt. So raunen zumindest die Bhote, tibetischstämmige Nepali,
die am Fuß des Berges leben. Doch halt - nicht so eilig. Manaslu
beherbergt manasa, heiliges Sanskrit, jenseits der fünf Sinne. Und
der sechste will erst erworben werden.

Früh übt sich |
Neun Tage Wanderleben aus den Reisfeldern und Bananenhainen
Ganeshstans ins Basislager hoch über Samagaon. Ein zartgliedriger
Nepali mit kaum mehr als fünfzig Kilo Körpergewicht

Knochenarbeit |
schlingt eine Hanfseil um einem geflochtenen Korb, aus dem mein
Packsack ragt. Quer über diesen dreizehn Kilos thront meine blaue
Tonne. Weitere dreiundzwanzig Kilo. Ein Tuch über die Stirn, runter
in die Knie, und die Seilmitte auf das Tuch. Helfende Hände
unterstützen den Korb beim Abheben. Und dann acht Stunden auf die
Walz. Träger in Nepal ist ein Knochenjob. Vierzig Kilo Last sind
keine Seltenheit, wie wir erfahren. Während die Hunza in Pakistan
schon vor vielen Jahren ein 25-Kilo-Limit eingeführt haben, blieb
es in Nepal bisher bei Empfehlungen. Aber selbst wenn die Träger zu
Recht stolz auf ihre Leistungsfähigkeit sind, beschließe ich, für
kommende Reisen bei den Verhandlungen mit der Agentur auf einem
Hunza-Limit zu bestehen.
Es schneit. Wieder einmal. Wir sitzen im Basislager. Wieder
einmal. Im Meßzelt, der knallgelben Halbkugel im weißen Meer,
unserer Halbwelt.

Unsere Halbwelt |

Grün als Mangelware |

Naike Peak rutscht... |
Die fehlende Hälfte ist grün, jenes Grün, das wir seit fast vier
Wochen nur noch auf Gebetsfahnen bewundern können. Auf den
Gebetsfahnen, die über den Zelten von Ralfs Gruppe nebenan
flattern. Hinter den Zelten rauscht, unsichtbar, Neuschnee aus der
Flanke des Naike Peak. Die steilen Rinnen entladen sich bereits
nach kurzem Schneefall. Aber was ist mit den weniger steilen Hängen
über der Seraczone nach Lager 1 ? Schon beim ersten Aufstieg hatten
wir hier knietiefen Schnee. Peter spurt fast im Alleingang
fünfhundert Höhenmeter durch die seichte Senke, acht Stunden, ein
voller Arbeitstag. Für mich heißt diese Passage seither schlicht
das Tal der Qual. Und der gerade zurückliegende Abstieg aus Lager
2? Nach zwei Nächten Schneetreiben wühlen wir uns hinunter durch
einen halben Meter frisches Weiß. Dreh dich nicht um. Der Hang wird
halten. Muß halten. Hält.

Ongdi, vor Bhatti |

mouse bhatti |
Ongdi, what does this mean? Das Symbol ist allgegenwärtig. An
Dorfbrunnen. An Hauswänden. An Felsen. Ongdi, unser Sirdar, spricht
fließend Nepali, und als Sherpa genauso gut Tibetisch, aber mit dem
Englischen hapert es ein wenig. This is mouse bhatti. Über Bhattis
wissen wir mittlerweile Bescheid, einfache Gaststätten, bei denen
auch wir uns hin und wieder verköstigen. Gaststätten für Mäuse?
Rätselhaft. Bei der nächsten Mahlzeit servieren wir die Frage Daal,
unserem Koch. Oh yes, this is mouse bhatti. Political bhatti.
Endlich fällt der Groschen. Die Mäuse entpuppen sich als Maoisten
und das Symbol gibt recht gut ihren verschlungenen Weg an die Macht
wieder. Als achte Partei der Regierungskoalition gibt man sich zur
Zeit demokratisch. Offiziell. Das bedeutet aber keineswegs, daß man
nicht inoffiziell Splittergruppen toleriert, die fern der Metropole
Kathmandu nach wie vor erpressen, enteignen, ermorden.
Basislagerkrise. Die Zeit wird knapp. So viel Herzblut
investiert, nur um abzuziehen, ohne über Lager 2 hinausgekommen zu
sein? Wir akzeptieren, daß nur noch dann eine Chance besteht, den
Gipfel zu erreichen, wenn wir uns mit Ralf und seiner Gruppe
zusammentun. Die zur Verfügung stehende Zeit schmilzt dahin. Rinnt
unerbittlich in die Basislagertage. Dehnt sie ins Unermeßliche.
Längst sind alle Gespräche geführt, alle Bücher ausgelesen - na ja,
fast, denn für das Opus Magnum der Jelinek genügt mir nicht einmal
die Unermeßlichkeit.

Der Segen der Götter |
Der beißende Rauch paßt nicht zum betörenden Geruch, den der
Wacholder während seiner Auflösung knisternd verbreitet. Doch die
Männer, die ums Feuer sitzen, huldigen weniger dem Rauch, als
vielmehr dem Rausch. Rakshi, selbstgebrannter Schnaps aus so
ziemlich allem, was sich destillieren läßt, macht in halbierten
Konservendosen und Plastikbechern die Runde, während sich ledrige
Haut in Lachfalten wirft, und blasse Jungenwangen aufblühen, zu
zarter Röte. Als endlich der Mut übergeht, erhebt sich die bunte
Gesellschaft, sammelt sich hinter gespannter Schnur, und
präsentiert dem Publikum prächtige Roben. Obwohl - die Mädchen vor
mir in ihrem Sonntagsstaat können sich auch sehen lassen. Hinter
dem Seil spannt die Meute ihre Bogen. Vor dem Seil wirbelt weißes
Pulver in die Luft. Segen der Götter? Spannung im Publikum. Bunte
Pfeile schnellen von Sehnen, suchen unsichtbar ihr Ziel. Rundum Ah
und Oh.

Spurarbeit im Tal der Qual |
Die Schnur sinkt zu Boden. Wer hat die fernste Marke ins Gras
gesetzt? Augenschwenk nach links. Aber was ist das? Kein
Augenschwenk vor mir. Der Blick der Mädchen fixiert einen Pfeil.
Zitternd steckt er etwa einen Meter vor ihren Füßen in der Wiese.
Hier hat das Zielwasser wohl versagt.

Im Seracgarten |
Endlich klart es auf. Zwei Tage mit strahlendem Sonnenschein.
Reicht das, damit sich der halbe Meter Neuschnee setzt? Ist sie da,
unsere letzte Chance? Das Innsbrucker Orakel, Himalaya-Wettermacher
Doktor Gabl, sagt ja. Das heißt Aufbruch. Zum fünften Mal schwitzen
wir ungeschoren durch den fallsüchtigen Seracgarten über Lager 1.
Nach der Steilstufe legen Ralf und seine Mannen Schneeschuhe an,
kommen leichter voran, im Tal der Qual. Ich lebe nicht auf derart
großem Fuß, sinke ein, falle zurück. Trotzdem - das Stapfen fällt
nur halb so schwer, wie im unberührten Pulver.

Auf großem Fuß |
Es wird Nacht in der ohnehin dunklen Koch- und Gaststube, als die
Alte in der Tür steht. Die völlig zerschlissene Wollmütze kann das
strubbelige Silber kaum bändigen, ebensowenig der schlampige Zopf,
in dem das Haupthaar ausläuft. Sie hockt sich an den Pfosten, der
die niedrige Decke stützt.Die Wirtin, Hüterin des Feuers, schöpft
etwas Buttertee aus dem niemals leer werdenden Kupferkessel in eine
Schale und reicht sie der Alten. Ich verstehe den tibtischen
Singsang nicht und das Gesicht der Alten bleibt mir verborgen, aber
ihre Miene spiegelt sich in den Zügen der Wirtin. Lachfalten sind
leicht zu lesen.Hier wird der neueste Klatsch abgehandelt. Jetzt
zieht die Alte einen Brief aus dem verfilzten Umhang, der
vermutlich auch ohne ihre Unterstützung die Form wahren würde, und
reicht ihn dem jungen Mann gegenüber. Er beginnt zu lesen. Ungeübt.
Stockend. Leise. Die Wirtin lächelt, ihr Blick wandert vom jungen
Mann zur Alten, und wieder zurück. Doch ganz allmählich trübt sich
mein Spiegel, Augen leiden, Schultern trauern, Lächeln stirbt. Der
junge Mann hat das Ende des Briefes erreicht, schweigt. Die Wirtin
blickt zu Boden. Stille. Der Brief verschwindet in den
unergründlichen Tiefen des Umhangs. Die Alte schiebt sich am
Pfosten in die Höhe, schlurft langsam ins Licht, stößt uns zurück,
in die Nacht.

Am Fixseil |
Eine kleine Terrasse über schillernden Eiswänden. Lager 2. Dicht
drängen sich gelbe Kuppeln aneinander, in der blauen Stunde
zwischen Nacht und Tag. Da, eine Lücke.

Lawinentropfen |
Unser Schneckenhaus fehlt. Ist schon eingesackt. Wir spielen
Alpinstil, frei nach Buhl, und nehmen das Zelt mit aufs Plateau.
Nicht ganz freiwillig, zugegeben. Aber sein Vorgänger leidet an
akuter Schneeüberlastung, liegt mit multiplem Stangenbruch im
Basislager. Noch zwei Kehren bis zum Schneeschuhdepot. Die Schneide
des Kleinen Manaslu glüht, markiert die Grenze zwischen Licht und
Dunkel. Fixseilmontage. Ich erreiche Peter, der sich als Seilträger
verdingt. Da. Schau. Der träge Blick folgt dem ausgestreckten Arm
hinunter ins Tal der Qual. Ein wild wucherndes, tropfenförmiges
Geschwür beleidigt Frau Holles sanfte Formen. Riesige
Lawinenknollen haben unsere Aufstiegsspur großflächig unter sich
begraben. Der Tropfenhals liegt direkt unterhalb von Lager 2.

Nistet Morgensonne |
Ein Serac hat sich mitsamt der Gebetsfahnengalerie in die Tiefe
verabschiedet. Die Abbruchkante liegt jetzt knapp neben den Zelten.
Viel besserer Tiefblick dort, jetzt, zweifellos.

Blick zum Lager 3 |
Zwei Uhr, säuselt mein saftloser Wecker. 7400 Meter. Höhenkranke
Elektronik? Nein, wohl nur unterkühlt. Minus fünfundzwanzig Grad.
Trotzdem. Raus aus den Federn, raus aus der Wärme, raus aus dem
Zelt. Wo sind die Steigeisen? Gestern neben dem Zelt vergessen,
heute völlig vereist. Unbewegliche Riemen. Zweimal muß ich die
Daunenfäustlinge ausziehen. Na hervorragend. Kalte Finger, und das
noch vor dem ersten Schritt. Durch das langwierige Herumgefingere
an den Eisen bin ich der Letzte, der die Zelte verläßt. Stille
Nacht. Fast. Jeder Schritt der Elefantenfüße wird mit trockenem
Knirschen quittiert. Heilige Nacht.

Annapurna hebt ihre Spitzen |
Unzählige Lichter ziehen majestätisch über pechschwarzes Firmament.
Manche langsamer, manche schneller. Und manche, in Dampfschwaden
gehüllt, überhole ich sogar. Einsam wacht. Über mir, dunkler vor
dem Dunkel, Kambungs Thron. Unter mir, sanft gewellt, ein
bauschiges Wolkenmeer. Hinter mir, in den Riffeln des Kleinen
Manaslu, nistet Morgensonne. Neben mir, riesenhaft, weist Manaslus
Schatten den Weg zur Nachbarin. Annapurna. Hebt ihre Spitzen schon
in gleißendes Licht. Wir, Westseitige, darben noch in frostigem
Schatten.
Eiskalte Zehen. Die Bewegungen atemlos, kraftlos. Zu langsam, um
eingedicktes Blut in Wallung zu bringen. Ich kenne das schon. Und
wieder die unbeantwortbare Frage. Wie weit kann ich gehen, ohne
Erfrierungen zu riskieren? Jeder entscheidet für sich.

Erstarrte Wogen |
Oder macht es wie Hannes. Der gießt sich ein Häferl Tee ein, zieht
Stiefel und Strümpfe aus, taucht die kalten Zehen in den heißen
Tee. Unkonventionell? Aber den Zehen gehts besser, sagt er. Für
eine halbe Stunde, sagt er. Vier Behandlungen weiter ist der Tee
leer. Hannes sagt nichts mehr. Hannes steigt ab.

Am Gipfelgrat |
Sepp, Vater, Herrgottschnitzer, steigt weiter auf, rückt dem
Herrgott näher. Wenigstens braucht Hannes den Schlafsack jetzt
nicht mit seinem Vater teilen, wie in der vergangenen Nacht. Ja, so
friert einer, dem der Schlafsack aus der Hand rutscht.
Weiterrutscht. Auf die Kante zu. Morgen werden wir ihn wieder
finden. Inzwischen wartet er, 800 Höhenmeter weiter unten, im Tal
der Qual. Der Schlafsack. Ganz still, auf den Lawinentropfen.
Plateau? Wer hat die erstarrten Wogen oberhalb von Lager 3
Plateau genannt? Er trete vor und krieche voran. Das wird ihn
lehren, noch einmal von Plateau zu faseln. 700 Höhenmeter sind kein
Plateau. Merke er sich das. Ich hole tief Luft - soweit es halt
noch geht - und huste ihm was. Das kann ich gut. Sehr gut. Auch im
Basislager. Aber hier heroben kann ich es besser. Viel besser.
Überaus dramatisch. Kein Zauberberg kann mir das Wasser reichen.
Würde aber sicher helfen, denn genau daran mangelt es hier.
Feuchtigkeit. In der Luft. Alles Unsinn. Kann man denn nicht an
etwas Vernünftiges denken, während man sich höherquält? Steig
gleichmäßig. Zau. Ber. Berg. Ma. Nas. Lu. Kam. Bung. Wird er uns
Audienz gewähren? Noch steiler?

Peter am Gipfel |

Manaslu |
Geht nicht mehr. Will nicht mehr. Atmen. At. Men. Luft holen. Aber
woher bloß? Wie lautet das Credo? Im Takt bleiben. Na gut. Noch bis
zur Kante. Ich will sehen. Aber wenn dann noch nicht Schluß ist,
dann ist Schluß. Ende. Aus steiler Rinne, über die Kante. Blick
frei auf Kambungs Thron. Ein kurzer, stark überwächteter Firngrat
führt hinauf. Unter den Wächten 5000 Meter Ostflanke, dann das
Kloster von Lho. Ich sinke ins Knie. Oder sollte ich mich einfach
fallen gelassen haben? Keine Ahnung. Kambung ist ohnehin nicht
daheim, der Thron verwaist. Und viel zierlicher, als angenommen.
Fragiler Zuckerguß schmückt den massiven Sockel. Peter sichert mich
die letzten Meter hinauf. 8156? 8163? Sicher ist nur - jeden Tag
ein wenig anders. Stolz? Erleichterung? Dankbarkeit? Demut?
Entscheiden Sie. Ich bin sprachlos. Muß zurück. Hinunter. |